Verdrehte Welt
Schauplatz des Geschehens: Ein Heim für verlassene Menschen. In einer anderen Zeit, in einer anderen Welt…
„Guten Morgen, wau!“ „Womit kann ich Ihnen helfen, wau?“ „Schauen Sie, ich komme, um meinen Herrn abzugeben. Es ist, weil… nun ja, Sie wissen schon…
ich hab ihn nicht mehr so gerne, wie als er noch ein Baby war. Damals war er so niedlich, so lustig, hat kaum Platz gebraucht… aber jetzt – stellen Sie sich vor, 18 Jahre ist er jetzt schon alt geworden! Damals hatte er ein so niedliches Gesichtchen, aber jetzt, mit dem Bart, mit den ganzen Pickeln, und rauchen tut er auch noch…Aber das Schlimmste….
das Schlimmste ist, vorher war er ja so schone klein. Aber jetzt! Er ist 1,80 groß und wiegt 90 Kilo! Wissen Sie, was der verputzt? Und wie teuer das kommt? Außerdem, stellen Sie sich vor, jedes Wochenende geht er auf die Rolle! Ein Wahnsinn, sage ich Ihnen! Nee, das halte ich nicht mehr aus, ich hab die Nase voll! Hier haben Sie den Gesundheitspass, die Impfungen hat er alle….“
Etwas später:
„Guten Morgen, wau!“ „Womit kann ich Ihnen helfen, wau?“ „Sehen Sie, es ist so: Meine Frau – das ist übrigens die attraktive Pudeldame, die da an der Türe steht – und ich, wir werden umziehen. Wir haben etwas echt luxuriöses gefunden, ein paar schicke neue Hundehütten, aus lackiertem Holz und ein paar tollen neuen Designer-Matten. Für uns beide ist da genügend Platz, aber nicht für unseren Herrn, der würde sich auch da gar nicht wohlfühlen. Er hätte keinen Platz, mit seinen Kumpels am Freitag Skat zu spielen, auch nicht, um stundenlang mit der Fernbedienung auf dem Sofa zu liegen und durch die Programme zu zappen. Also, weil es uns ja vor allem um sein Wohl geht, lassen wir ihn am besten hier in einem Ihrer Zwinger, sicher ist er hier am besten aufgehoben. Wir lieben ihn nämlich so sehr…“
Etwas später:
„Guten Tag, wau!“ „Womit kann ich Ihnen helfen, wau?“ „Wissen Sie, es ist so, wir haben beschlossen, in unser Land zurückzukehren, und unser Herrchen können wir unmöglich mitnehmen. Die Einreisebestimmungen sind etwas streng. Die meisten Herrchen lassen sie schon rein ins Land, aber die Sorte, die ich habe, leider nicht. Er ist ziemlich groß und stark, verbringt den ganzen Tag im Fitnessstudio mit Bodybuilding und so, und ein paar Zähne hat der Kerl – da kann man schon bange werden. Im Grunde hat er einen gutmütigen Charakter, er ist so harmlos wie ein Stück Brot, aber so wie er halt nach außen wirkt… Also, sie trauen ihm nicht und lassen ihn nicht rein. Wir haben schon versucht, ihn anderen Hunden als Herrchen zu vermitteln, aber sobald sie ihn sehen, kriegen sie Panik“.
Stunden später:
„Guten Tag, wau!“ „Womit kann ich Ihnen helfen, wau?“ „Ich komme, um meinen Herrn abzugeben. Ich will ihn nicht mehr. Stellen Sie sich vor, gerade ist er 80 Jahre alt geworden. Ich will ihn nicht mehr. Er nützt mir nichts mehr, er geht nicht mehr mit mir spazieren, und außerdem ist er ziemlich pflegebedürftig geworden. Das Essen muss ein besonderes sein, er kann kaum noch laufen, manchmal muss ich ihn sogar auch saubermachen und sogar trockenlegen… Er ist so schwerhörig geworden, er hört fast gar nichts mehr! Das Fernsehen dreht er so laut, das hält ja kein Hund aus. Er weiß manchmal nicht mehr, wo er ist, dann verläuft er sich, überall muss ich mit ihm zusammen hingehen. Ein Chaos.
Und die Kosten? Wenn ich jedes Mal, wenn ihm was wehtut, mit ihm zum Arzt laufen würde, wäre ich schon ruiniert. Früher, als er jünger war, hat er keine Schwierigkeiten gemacht. Aber jetzt muss ich mich zusätzlich zu dem, was ich sowieso schon am Halse habe, auch noch ständig um ihn kümmern. Den Impfpass von dem alten Herrn hab ich nicht mitgebracht, muss schon Ewigkeiten her sein, das wir das letzte mal beim Arzt waren. Also, ich lasse Ihnen den Opa jetzt hier. Wissen Sie, im Grunde tut es mir ja leid, und Sie können mir glauben, ich liebe mein Herrchen wirklich mehr als sonst irgendjemand, aber…“
„Ja, schon klar. Alle sind, wenn sie ihre Herrchen abgeben, immer zutiefst berührt“.
Anmerkung des Autors: Jede Ähnlichkeit mit wahren Begebenheiten wäre rein zufällig. Ein Hund würde NIEMALS seinen Herrn im Stich lassen.
Raúl Mérida